Können Sie sich an elBulli erinnern – das legendäre Restaurant von Molekularkoch Ferran Adrià? Oder kennen Sie Katz’ Deli in New Yorks Lower East Side mit seinen berühmten Pastrami-Sandwiches? Bestimmt. Aber vermutlich kennen Sie beides nur wegen der Geschichten, die sich darum ranken. Ohne die Geschichten wäre das Essen dort nur wunderlich (elBulli) oder gestrig (Katz’).
Aber so geht es uns mit vielen Genuss-Dingen: Wenn eine spannende Geschichte dahinter steckt, ist das eigentliche Objekt gleich noch viel interessanter. Natürlich hat das die Musikindustrie längst erkannt und spinnt um künstliche Stars wie Britney, Ariana und Co. ein dichtes Netz von Szene-Geschichten, die das Streaming-Publikum in Atem halten sollen – und mit der Musik meist überhaupt nichts zu tun haben. Diese Geschichten meine ich nicht. Mir geht es um die Story hinter der Musik, die Aktionen oder auch Zufälle, die zu einem bestimmten Stück, einem bestimmten Sound geführt haben. Sie sind es, die manchmal auch Songs interessant machen, die man sonst als belanglos empfunden hätte.
„Rise“ von Herb Alpert ist so ein Stück Musik. Kennen Sie nicht? Doch, kennen Sie.
Als Alpert diesen Song produziert – 1978 – ist er schon ein alter Hase im Musikgeschäft, hat als Sänger einen Nummer-1-Hit gelandet, obwohl er eigentlich Trompeter ist, betreibt ein erfolgreiches Musiklabel (A&M, das A steht für Alpert), und er hat über ein Jahrzehnt beachtlichen Erfolg mit seinen „Tijuana Brass“. Aber genau der holt ihn jetzt ein.
Ende der 70er Jahre grassiert die zweite Disco-Welle, erneut angefacht durch die Bee Gees und ihr Saturday Night Fever. Mittelamerikanisch angehauchte Schlager wie die der „Brass“ sind, na ja, nicht mehr so ganz angesagt. Und wenn, dann bei einem alternden Pubikum. Also beschließt Alpert, ein paar seiner Gassenhauer im aktuellen Disco-Sound neu aufzunehmen. Eine ziemlich abgeschmackte Idee mit dem Unterton der Verzweiflung. Und genau das erkennt Alpert dann schon während der Arbeiten selbst – und bricht das Vorhaben ab. Ende der Geschichte?
Nein, denn in dieser Phase taucht sein Neffe Randy „Badazz“ Alpert auf und spielt ihm ein paar selbstgeschriebene Demos vor. Kein lauwarmer Tijuana-Aufguss, sondern Disco-Sound, geradeaus. Und Onkel Herb willigt ein, eines der Stücke als Single aufzunehmen. „Rise“, eine typische Uptempo-Nummer, wie sie 1979 die Tanzflächen füllen kann. Ende der Geschichte?
Nein, denn Herb Alpert entschließt sich dafür, die brandneue Digitaltechnologie für die Aufnahmen zu nutzen, genauer gesagt: die sündhaft teure 32-Spur-Digital-Tondbandmaschine von 3M. Damit war eine saftige Dynamik im Sound und eine völlige Rauschfreiheit gegeben. Und dann ruft er für die Aufnahmen nicht irgendwelche Musiker ins Studio, sondern ausgebuffte Profis aus der Jazz- und Fusion-Ecke. Und ob es jetzt Drummer Steve Sheaffer oder Bassist Abe Laboriel war, der ihm dringend dazu riet, die Nummer langsamer einzuspielen, ist nicht eindeutig geklärt, aber auch egal. Jedenfalls landete „Rise“ bei gerade mal 100 Beats per Minute, also ein „Slow Cooker“ statt eines „Burners“ mit 130 bpm. Ende der Geschichte?
Nein, denn genau das war es offenbar, worauf die DJs gewartet hatten. Als Maxi-Single veröffentlicht, wurde aus „Rise“ erst das, was man einen Club-Hit nennen würde. Und das nicht nur in den USA, sondern auch in England, wo die DJs es kurioserweise allerdings vorzogen, die Maxi-Single nicht mit den vorgesehenen 33 Umdrehungen abzuspielen, sondern mit den für Singles üblichen 45, also sogar schneller, als es „Badazz“ ursprünglich geplant hatte. Ende der Geschichte?
Nein, denn jetzt kam ausgerechnet eine Fernsehserie zu Hilfe. Die Produzenten von „General Hospital“ hatten die skurrile (absurde?) Idee, die Liebesgeschichte zwischen den beiden Protagonisten ausgerechnet mit einer Vergewaltigung in einer Disco beginnen zu lassen. Ja, richtig gelesen. Und weil diese Vergewaltigung im Sinne der Drehbuch-Dramturgie natürlich wie ein dunkler Schatten immer wieder die Erinnerung von Laura und Luke heimsuchen musste, wurde „Rise“ als eine Art Wiedererkennungsmelodie bei jeder dieser Rückblenden eingespielt.
Und das Ende der Geschichte? „Rise“ wurde zum Nummer-1-Hit, das nachgeschobene Album auch, und Alpert der bis heute einzige Künstler, der die Spitze der Charts sowohl als Sänger als auch als Instrumentalist erreicht hat.
Und das dank der Bee Gees, seinem Neffen, 3M, zwei Fusion-Musikern und einer Vergewaltigung. Und jetzt hören Sie einfach nochmal rein in „Rise“. Doch ganz interessant, oder?
(P.S.: Und gehen Sie mal zu Katz‘, so lange es noch existiert. Sie werden Geschichten zu erzählen haben…)
Kommentar verfassen